„Wolke der Erinnerung“ hilft Trauernden im Kolumbarium St. Pius
Kunstprojekt erinnert an Verstorbene
Über dem ehemaligen Altarraum des Kolumbariums St. Pius in Bochum-Wattenscheid schwebt die „Wolke der Erinnerung“ – ein Kunstwerk aus Alltagsobjekten, das an Verstorbene erinnert und lebensfrohe Geschichten von Liebe und Leidenschaften erzählt.
Da schwebt der Löffel neben dem Rosenkranz und das Kartenspiel neben der Bergbau-Lampe, hinten blinkt eine CD und vorn ein Mini-Akkordeon aus Metall. Wer in Bochum-Wattenscheid das Kolumbarium St. Pius betritt, kann schon vom Eingang aus schemenhaft die Wolke erkennen, die über dem ehemaligen Altarraum der Kirche schwebt, die heute Urnen beherbergt. Und wer von dort den Weg durch das Kirchenschiff nimmt, links und rechts vorbei an den mit vielen Blumen geschmückten Grabstätten hinauf zu der Ebene, auf der früher der Altar stand und heute Gottesdienste gefeiert werden, für den wird diese Wolke immer deutlicher: Eine Mundharmonika und ein älteres „iPod Shuffle“-Modell, Christbaumschmuck und ein gläserner Teddybär hängen da neben mittlerweile rund 150 weiteren kleinen Objekten an fast unsichtbaren Nylonfäden rund drei Meter über dem Boden. Mit dem Kopf im Nacken bestaunen die meisten Gäste, die zum ersten Mal hier sind, diese ungewöhnliche Konstruktion. Das beobachten Elisabeth Hartmann-Kulla und Ralf Tietmeyer, die als ehrenamtliche Begräbnisleiterin und hauptamtlicher Seelsorger häufig im Kolumbarium tätig sind. „Die Wolke der Erinnerung fasziniert die Menschen“, sagt Hartmann-Kulla.
Keine Kuscheltiere in der Wolke
Wer um einen Menschen trauert, der im Kolumbarium bestattet ist oder einen anderen Bezug zu diesem Ort hatte, ist eingeladen, ein Objekt abzugeben, das an diese Person erinnert. Dabei darf das Objekt nicht zu groß und nicht zu schwer sein, damit es an den dünnen Anglerschnüren aufgehängt werden kann. „Und es darf kein Kuscheltier sein“, nennt Tietmeyer das einzige echte Ausschlusskriterium der Künstlerin Gabriele Wilpers, die die Wolke entworfen hat und gemeinsam mit ihrem Mann Herbert Galle seit 2019 pflegt und kontinuierlich erweitert. „Sonst hätten wir hier vermutlich schnell eine Teddybären-Wolke“, vermutet der Seelsorger. Doch stattdessen hat sich in den vergangenen Jahren ein buntes Sammelsurium entwickelt – ein kleines Kuriositätenkabinett aus Alltagsgegenständen.
„Wertvolles neben Banalem, Außergewöhnliches neben Massenprodukten“
„Was die Angehörigen abgeben ist oft etwas ganz Erstaunliches“, sagt die Künstlerin. „Es findet sich Wertvolles neben Banalem, Außergewöhnliches neben Massenprodukten – aber alle Objekte lösen Erinnerungen und Imagination aus.“ Jedes Objekt hat eine Geschichte, die die Angehörigen mit einreichen. Mal hand-, mal maschinengeschrieben, mal mit vielen und mal mit wenigen Worten erzählt. Immer ist diese Geschichte abgeheftet und wohl verwahrt in dicken Ordnern der Künstlerin und des Kolumbariums. „Mit diesen Geschichten wird aus einer Mundharmonika in unserer Wolke die Mundharmonika“, beschreibt es Tietmeyer. Und aus dem scheinbar belanglosen Besteck wird das Besteck aus den Zeiten der Kriegsgefangenschaft des Vaters, das die Tochter nach dessen Tod abgegeben hat – verbunden mit der Geschichte, dass ihr Vater nie ohne dieses Besteck aus dem Haus gegangen sei. Selbst auf Reisen und im Restaurant habe er damit gegessen. Und als man ihn auf einer Hochzeit gebeten habe, doch wenigstens angesichts des festlichen Anlasses einmal das edle Tafelbesteck zu nutzen, habe er gesagt: „Ohne meine Gabel werde ich nicht satt.“ Eine berührende Geschichte, mit der das besondere Besteck in der Wolke der Erinnerung wiederum zu einem Repräsentanten für tausende ähnliche Bestecke werde, die Männer vor 70 oder 80 Jahren aus der Kriegsgefangenschaft mit nach Hause gebracht haben – und für Traumatisierungen, die sich so oder ähnlich wohl in vielen Familien gezeigt hätten, so Tietmeyer.
„Manchmal braucht es Zeit, bis die Angehörigen das richtige Objekt gefunden haben“, hat Hartmann-Kulla festgestellt. Das habe wohl auch mit dem Trauerprozess zu tun. Nach Abschied und Beisetzung werden die Dinge geordnet, kommen Erinnerungen hoch, Schönes und Trauriges, manches „Weißt du noch?“. Und dann ist da vielleicht das eine Erinnerungsstück, das so klar für den Menschen steht, der nun nicht mehr da ist – und von dem man sich dann auch noch verabschieden soll. Gut für die Angehörigen: Es gibt keinerlei Zeitdruck. Ein oder zweimal im Jahr kommt die früher in Essen und mittlerweile in Geseke lebende Künstlerin Wilpers mit ihrem Mann nach Wattenscheid, um die neuen Erinnerungsstücke zu ergänzen. „Ich bin dann oben auf dem Dachboden und bohre Löcher durch die Decke, durch die wir dann die Fäden anbringen“, berichtet Galle. Weil die Decke so schalldicht ist, muss seine Frau ihn aus dem Altarraum per Handy so dirigieren, dass die Fäden an der richtigen Stelle aus der Decke kommen. Demnächst steht ohnehin eine kleine Instandsetzung an: Entweder eine in der Kirche verirrte Taube oder der Wind, der an heißen Sommertagen durchs offene Fenster gezogen ist, haben einige der filigranen Fäden durcheinandergebracht. Das werden Wilpers und Galle demnächst wieder richten.
Goldene Zweige erinnern an das „himmlische Jerusalem“
Zwischen den bunten Erinnerungsstücken hat Wilpers goldene Zweige in die Wolke gehängt. Sie geben dem schwebenden Kunstwerk eine gewisse Struktur und schlagen farblich den Bogen zu anderen goldenen Elementen im Kolumbarium, zum Beispiel in den Aufbahrungsräumen, den früheren Kapellen der Kirche. Künstlerisch orientiert sich das Konzept des Kolumbariums am „himmlischen Jerusalem“, wie es die Bibel beschreibt. „Die Straße der Stadt ist aus reinem Gold, wie aus klarem Glas“, zitiert Tietmeyer den Vers aus der Offenbarung des Johannes. Für das Kolumbarium ist das „himmlische Jerusalem“ ein starkes Hoffnungsbild. „Es beschreibt eine kostbare Stadt mit leuchtenden Straßen und Toren, die aus ihrem Inneren herausstrahlt. In ihrer Mitte lebt Gott bei den Menschen, und das Glück dieser Gemeinschaft setzt Trauer und Schmerz ein Ende“, heißt es in der Beschreibung der Wattenscheider Einrichtung.
Die Wolke der Erinnerung hängt ein bisschen dazwischen, zwischen hier und Himmel. Und natürlich helfen die Objekte Angehörigen, Freundinnen, Nachbarn oder dem einstigen Kollegenkreis bei der Erinnerung und Trauer, sagt Tietmeyer. Zugleich entstünde durch die Objekte in der Wolke eine neue Art von Gemeinschaft – mit sehr unterschiedlichen Mitgliedern: Da ist zum Beispiel der verstorbene Oldtimerfan und Inhaber einer örtlichen Autowerkstatt, an den nun ein knallgelber Modell-Ferrari erinnert. Auch der 1872 geborene Großvater einer sehr gläubigen Familie gehört dazu, für den nun der Rest eines Rosenkranzes steht. Der sei „geradezu abgebetet“ meint Tietmeyer, weil die übrig gebliebenen Holzperlen durch das hundertfache durch die Finger laufen lassen längst nicht mehr rund sind. Und der feine Zuckerlöffel verweist auf eine 1911 geborene Frau, die ihre Tochter als tüchtig, arbeitsam und sparsam beschreibt. Die tägliche Tasse Kaffee sei praktisch ihr einziger Luxus gewesen – aber den habe sie zelebriert: Immer die besten Bohnen aus Costa Rica, die die Tochter als Kind im Kaffeegeschäft kaufen durfte. Und in jede Tasse ein Löffel Kondensmilch und zwei Löffelchen Zucker. So wie dieser Tochter wohl der Kaffeeduft in die Nase steigt, wenn sie beim Besuch der Grabstelle ihrer Mutter den kleinen Löffel in der Wolke entdeckt, weckt Wilpers Kunstwerk bei vielen Objekten Bilder, Töne, Gerüche und andere Erinnerungen an Menschen, die diese Welt schon lange verlassen haben.
Erweiterungspläne fürs Kolumbarium
Diese Wolke der Erinnerungen wird demnächst womöglich noch größer: Weil bereits jetzt schon alle bisherigen rund 1400 Plätze im Kolumbarium St. Pius vergeben sind – wenn auch noch nicht belegt – soll die Begräbnisstätte erweitert werden und dann Platz für rund 2000 Urnen bieten. Doch auch vor der Erweiterung wird es noch zahlreiche Beisetzungen im Kolumbarium geben – und damit Gelegenheiten für neue Erinnerungsstücke, die Gabriele Wilpers und Herbert Galle ihrer Wolke hinzufügen können. (tr)
Infobox
Kolumbarium St. Pius, An St. Pius 2 in 44866 Bochum-Wattenscheid
täglich geöffnet von 10 bis 18 Uhr
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Beitragsbild: Achim Pohl, Bistum Essen.













